Das reale Verhalten ist aber nicht mysteriös und lässt sich auch (heute) leicht messen und simulieren: Für die Addition der Signale zweier Lautsprecher im Übergangsbereich ist eben nicht der Amplituden- und Phasengang der Weiche allein entscheidend, sondern der effektive Amplitudengang von Lautsprecher plus Weiche muss berücksichtigt werden. Das gilt im Auto genauso wie zu Hause. Die erste mir bekannte kommerzielle Anwendung dieser Erkenntnis war die KEF 104ab. Hier kamen zum ersten Mal "Acoustic Butterworth" Weichen zum Einsatz. Geilerweise stellt KEF bis heute ein Whitepaper über die Entwicklung der 104ab online bereit.
Weichen 1. Ordnung - die Leider im Autobereich immer noch häufig eingesetzt werden - leiden ganz besonders darunter, dass die verwendeten Treiber eben außerhalb ihres vorgesehenen Einsatzbereichs keinen idealen Frequenzgang haben. Damit so ein Ansatz funktioniert, müssen die Hochtöner auch noch sehr tief eingesetzt werden können und die Tieftöner sehr hoch. Zusätzlich muss man umfangreiche Korrekturen zur Impedanzlinearisierung zumindest des Hochtöners vornehmen. Der einzige mir bekannte Hersteller, der Weichen 1. Ordnung konsequent einsetzt ist Dynaudio. Die Anzahl der Weichenbauteile ist aber auch meist nicht geringer als bei einer steileren Weiche und die Dynaudio-Treiber sind von Anfang an gezielt für diesen Einsatz entwickelt. Nicht ohne Grund hatte Dynaudio schon in den 1980er Jahren 7" Tieftöner mit 75mm Schwingspulen ausgestattet: Die damit mögliche hohe elektrische Belastbarkeit war gar nicht der Punkt, tatsächlich sind solche Schwingspulen sehr schwer und haben eine hohe Induktivität. Dadurch fällt der Frequenzgang zu den Höhen eben von selbst stark ab. Alles nur, um dem Paradigma der Weiche ohne Gruppenlaufzeitdifferenz zu frönen. Über die Hörbarkeit will ich mich hier gar nicht weiter auslassen, das machen wir in der Plauderecke.
Gerade im Auto mit den (wie schon erwähnt) großen Abständen zwischen den Treibern sind Weichen akustisch (!) 1. Ordnung überhaupt nicht funktionsfähig. Wenn man den Tieftöner des Infinity 6512cs einzeln misst, wird man sofort sehen, dass er ab 3 kHz von Natur aus einen recht steilen (und hoffentlich sauberen) Amplitudenabfall hat. Das ist für einen Treiber dieser Größe auch nicht ungewöhnlich. Effektiv wird die akustische Flankensteilheit eher 18 dB/Oktave betragen, also 3. Ordnung. Ein Hochtöner dieser Größe ohne durchbohrten Polkern und angekoppeltes Volumen wird eine Grundresonanz irgendwo zwischen 1100 und 1900 Hz aufweisen. Unterhalb dieser Resonanz fällt der Pegel mit 12 dB/Oktave ab. Zusammen mit der Weiche ergibt sich also irgendwann sogar eine akustische Flankensteilheit von 24 dB/Oktave, im Übernahmebereich wird es weniger sein.
Bleibt die Frage, warum der Hochtöner verpolt angeschlossen wird (genausogut könnte man auch den Tieftöner verpolen, die absolute Phase ist unhörbar). Entweder entspricht das akustische Verhalten im Bereich der Trennfrequenz keinem theoretischen Ansatz ganz genau, oder beim realen Ausprobieren hat sich das eben ergeben. Wobei die konkrete Einbausituation das Ganze von Auto zu Auto wieder beeinflussen kann.
Daher nach wie vor mein Tipp, beide Polungen auszuprobieren. Ideal wäre natürlich, wenn man das ganze auch noch messen könnte. Sehr gute Mess-Software gibt es kostenlos (z.B. Room Equalization Wizard oder ARTA, bei dem zumindest eine kostenlose Demo eingeschränkt genutzt werden kann). Dazu braucht man nur noch ein Laptop und ein brauchbares Mikrofon. Beliebt und nicht schlecht sind z.B. das Behringer ECM-8000 (das aber noch eine Phantomspeisung benötigt) oder das miniDSP UMIK-1 (das direkt an einen USB-Eingang angeschlossen werden kann und dank mitgelieferter Kalibrierung absolute Pegelmessungen erlaubt). Ob sich der Aufwand lohnt um nur einmal zu "messen" ob die Lautsprecher jetzt besse "klingen" sei dahingestellt. Ob "messen" und "klingen" ein Widerspruchspaar bilden auch.
Als Ingenieur sage ich natürlich: Tun sie nicht. 